"Aufenthalt", Johannes Bobrowski

  • Hallo,


    nach vielem Lesen und Suchen und Überlegen bin ich nun am Ende meiner Künste. Es geht um die Interpretation des Gedichtes "Aufenthalt" von Johannes Bobrowski.
    Durch seine Fragmentierung und Reduzierung des Gesagten auf das Wesentliche scheint er sich ja so ziemlich abzuheben, aber es fällt mir trotzdem schwer mich in die 2. und 3. Strophe des Gedichtes reinzuversetzen und sie zu erfassen geschweige denn zu interpretieren

  • Noch mal ich.
    Ich bezieh mich auf meinen ersten Beitrag, den ich leider etwas vorschnell abgeschickt habe, weil ich mich hier noch nicht so auskenne. Sorry.


    Ich kann das Gedicht ja mal hier reinstellen:


    Aufenthalt


    Keiner erfährt, wo wir waren,
    mit trüben Augen Hunde
    sahen uns laufen hinab
    an den Zäunen, schwarz das Haus
    und das Land um die Wolgaquelle
    hügelig, Haus und Wand,
    verblichen das Bild:


    Tolstoi, alt, an den Balken
    gereckt der hölzernen Bahnstation,
    bäurisch mit den Händen,
    erschreckenden, die zu schmal sind
    für ein Gered im gestirnten Schloß,


    wo der Scharren vorbeischleift
    an den Zäunen - ich kenn
    die Gräber nicht, er entstieg
    Grüften aber, ich weiß,
    ich lehn mich ins Licht, das die Berge befällt mit der Wildnis der Lüfte - Vogelzüge, Geschrei
    drübenher, über mir, dort
    in die Ferne davon - ich stand
    auf verschütteten Strömen,
    höre seufzen den Sand,
    ich war ein hölzerner Schatten,
    beschlagen mit Eisen,
    umflogen
    vom fallenden Licht.




    Ich weiß, dass Bobrowski selbst in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war. In seinem Gedicht beschreibt er ja auch eine Region, in der sich dieses Lager befand - Wolgaquelle. Das ist bei den Waldaihöhen. Und er beschreibt diese Gefangenschaft, wie sie sich anfühlt. Soviel habe ich rausbekommen. Aber mir fällt es einfach schwer, mich in seine abstrakte und sparsame Sprache reinzufinden. Und das muss ich ja aber, um das Gedicht interpretieren zu können.
    Vielleicht kann mir jemand helfen, dieses Gedicht zu verstehen.
    Ich würde mich sehr freuen.

  • Hallo!


    Ist nicht schlimm, dass du zwei Threads zu einem Thema geschrieben hast. Die kann ich ja zusammenflicken :] .


    Also im ersten Vers beschreibt er das Land an der Wolgaquelle, und wie abgeschieden er von seiner Heimat und von seiner Familie ist ("Keiner erfährt, wo wir waren" ).


    Mit dem zweiten Vers tue ich mich ehrlich gesagt etwas schwer, da ich nicht weiß, was "Gered" bedeutet. Auch der Duden verwehrt mir eine Antwort. Soviel ist klar: Er beginnt mit Tolstoi. Das war ein russischer Schriftsteller (1828 - 1910), dessen erfolgreichstes Werk "Krieg und Frieden" war.


    Im dritten Vers schreibt Borowski über die Hungersnot, die die Gefangenen zu ertragen hatten. Viele deutsche Kriegsgefangene verhungerten, während es den Lageraufsehern schon besser ging. Daher schreibt er auch von "einem Scharren (das ist ein Verkaufsstand für Fleisch und Brot), der aus Grüften erstieg". Mit "Ich kenn die Gräber nicht" meint er wahrscheinlich, dass er nicht weiß, wie viele Gefangene, und wer an Hunger starb.
    Er schreibt aber auch davon, dass er selbst Hoffnung hat, die Gefangeschaft zu überleben: "[...] ich weiß,
    ich lehn mich ins Licht, das die Berge befällt mit der Wildnis der Lüfte - Vogelzüge, Geschrei
    drübenher, [...]"


    Mit den restlichen Zeilen meint Borowski, dass er nur ein anonymes und abgemagertes Individuum zwischen all den Gefangenen ist ("Ich war ein hölzerner Schatten). Seine Gefangenschaft bingt er folgendermaßen zum Ausdruck: ("beschlagen mit Eisen, umflogen vom fallenden Licht." ), wobei "umflogen von fallendem Licht" die Hoffnungslosigkeit in dem Lager wiederspiegelt - nicht aber seine eigene (siehe oben).



    Grüße, oe-floppy

  • Guten Morgen,


    vielen Dank für die wirklich guten Ausführungen.


    Mir erging es ähnlich wie Dir. Ich hab auch nix anfangen können mit dem Wort "Gered" sowie "gestirntes Schloß".
    Hab überall nachgesehen und gesucht.
    Deshalb ja auch meine Ratlosigkeit.
    Dann hab ich mir überlegt, ob es vielleicht etwas damit zu tun haben könnte, dass Bobrowski ein gläubiger Mensch war und er hier vielleicht mit dieser Formulierung etwas in Richtung Beten zum Himmel oder Reden mit Gott - oder an wen auch immer glaubte - meint??


    Naja, wie auch immer, Du hast mir sehr geholfen und über die zweite Strophe muss ich nochmal nachdenken, was ich da mache. Ist eben wirklich nicht so einfach, mit den Wortfragmenten etwas Gescheites anzufangen... ;)


    Liebe Grüße


    gwendi